In der Entscheidung J 0010/20 hatte die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes mehrere Entschuldigungen für versäumte Fristen zu prüfen:
1. „Ich habe die Beschwerdebegründung wegen COVID-19 sechs Wochen zu spät eingereicht!“
Die Kammer prüfte, ob diese Entschuldigung angesichts der Mitteilung des Europäischen Patentamts vom 1. Mai 2020 zulässig war. In der Mitteilung hieß es, dass wegen „der Störungen aufgrund des Ausbruchs von COVID-19“ alle Fristen, die am oder nach dem 15. März 2020 ablaufen, bis zum 2. Juni 2020 verlängert werden.
Die Kammer war mit der analogen Anwendung von Regel 134 (2) EPÜ, die in dieser Mitteilung des EPA verwendet wurde, nicht einverstanden. Die Regel 134 (2) EPÜ beziehe sich nur auf die Zustellung oder Übermittlung von Postsendungen und es sei fraglich, ob sie auf allgemeinere Störungen angewendet werden könne.
Die Kammer wandte jedoch den Grundsatz des Vertrauensschutzes an. Betrachtete man die Mitteilung vom 1. Mai 2020 in diesem Licht, so wurde die Beschwerdebegründung fristgerecht eingereicht.
2. „Ich habe am Tag der Frist eine Zahlung bei meiner Bank eingereicht, aber sie kam drei Tage zu spät beim EPA an!“
Nach Artikel 7 (3) der Gebührenordnung kann eine verspätete Zahlung als rechtzeitig geleistet angesehen werden, wenn die Zahlung durch eine Bank in einem Vertragsstaat innerhalb der Frist erfolgt ist. Dies gilt auch dann, wenn sie erst nach Ende der Frist auf dem Konto des EPA eingeht.
Die Beschwerdeführerin trug vor, dass die Gebühr für die Weiterbehandlung durch eine brasilianische Bank mit einer Tochtergesellschaft in London am Tag des Fristablaufs gezahlt worden sei. Die Kammer entschied, dass das bloße Vorhandensein einer Tochtergesellschaft in London nicht bedeute, dass eine brasilianische Bank das Erfordernis des Artikels 7 (3) der Gebührenordnung erfülle. Es gäbe außerdem keinen Beweis dafür, dass die Tochtergesellschaft in irgendeiner Weise an der Interaktion beteiligt war.
Daher entschied die Kammer, dass die Beschwerdeführerin die Zahlungsfrist versäumt hat.
3. „Das EPA hat den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses falsch berechnet!“
Ein Antrag auf Wiedereinsetzung nach Regel 136 (1) EPÜ kann innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden.
Der Vertreter der Beschwerdeführerin war sich bewusst, dass er die Frist für die Weiterbehandlung versäumt hatte. Er behauptete jedoch, dass der Wegfall des Hindernisses erst einen Monat später stattfand, nämlich als die Beschwerdeführerin von der versäumten Frist erfuhr.
Die Kammer war anderer Meinung und bestätigte die ständige Praxis des EPA, wie sie in J 27/90 begründet wurde: „Wird ein zugelassener Vertreter bestellt, so tritt der Wegfall des Hindernisses in der Regel an dem Tag ein, an dem der zugelassene Vertretervon der Fristversäumnis Kenntnis erlangt„.
Dieser Fall zeigt (wieder einmal), dass die korrekte Identifizierung des Ereignisses, welches das Anfangsdatum einer Frist markiert, von essentieller Wichtigkeit für Bestand oder Untergang einer Patentanmeldung bzw. eines Patents sein kann.