Am 22. Juni 2021 erließ die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts die Entscheidung G 4/19 (Double Patenting). Demnach wird eine europäische Patentanmeldung zurückgewiesen, wenn sie denselben Gegenstand wie ein europäisches Patent (also nicht lediglich eine gleichzeitig anhängige EP-Anmeldung) beansprucht, das denselben Anmelder und dasselbe relevante Datum hat. Die Anmeldung kann zurückgewiesen werden, unabhängig davon, ob sie (a) am selben Tag wie das bereits erteilte europäische Patent eingereicht wurde, oder (b) eine Stamm- oder Teilanmeldung davon ist, oder (c) dieselbe Priorität beansprucht wie das bereits erteilte europäische Patent.
Mit anderen Worten: Hat ein Anmelder bereits die Erteilung eines EP-Patents zu einem bestimmten Gegenstand erreicht, verweigert die Prüfungsabteilung die Erteilung von Ansprüchen auf denselben Gegenstand in einem späteren Prüfungsverfahren zu einer Anmeldung mit demselben relevanten Datum.
Dies gilt sogar – und das ist ein großer Haken, den jeder Anmelder bei einer künftigen EP-Prioritätsbeanspruchung bedenken sollte –, wenn das früher erteilte Patent die Prioritätsanmeldung der später geprüften Anmeldung ist. Der damit für den Anmelder verlorene Vorteil einer längeren Schutzdauer (aufgrund des späteren Anmeldetages) rechtfertigt nicht einmal in diesem Szenario (c) eine Doppelpatentierung.
Die Große Beschwerdekammer stützt sich stark auf die Travaux Preparatoires für Art. 125 EPÜ, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen.
Artikel 125 EPÜ sieht vor, dass das Europäische Patentamt bei Fehlen von dezidierten Verfahrensvorschriften im EPÜ die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass sich der Begriff „Verfahrensvorschriften“ in Artikel 125 EPÜ auch auf Vorschriften erstreckt, die eine Sachprüfung erfordern (ein weiteres Beispiel hierfür ist Art. 123 (2) EPÜ, unzulässige Erweiterung), und dass das Verbot der Doppelpatentierung einen Grundsatz des in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Verfahrensrechts darstellt.
Zwei Mosaiksteinchen wurden jedoch von der Großen Beschwerdekammer bewusst nicht geprüft. Erstens wurde, obwohl die vorlegende Kammer um Klarstellung gebeten hatte, der Begriff „derselbe Gegenstand“ nicht adressiert (zählen hierzu auch Anspruchsüberschneidungen?). Zweitens blieb die Frage unbeantwortet, ob die Vorschriften zur Doppelpatentierung auch im Einspruchsverfahren anzuwenden sind.
Wir stellen jedoch fest, dass in der Begründung zwischen „double protection“ (sich überschneidende Ansprüche) und „Doppelpatentierung“ unterschieden wurde, und sind daher recht zuversichtlich, dass das Verbot der Doppelpatentierung eng auszulegen ist und damit beschränkt bleibt auf exakt identische Ansprüche. Überlappende Ansprüche sollten daher trotz Doppelpatentierungsverbots zulässig bleiben. Es bleibt abzuwarten, welche Schlüsse die Prüfer des EPA aus dieser Entscheidung ziehen werden.
Hier der Link zur Entscheidung: