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Dr. Michaela Weigel-Krusemarck über die aktuellen Entwicklungen zum formellen Prioritätsrecht

Im Rahmen unseres regelmäßigen internen Anwaltsseminars hat Dr. Michaela Weigel-Krusemarck einen Vortrag zu aktuellen Entwicklungen zum formellen Prioritätsrecht gehalten. Im Fokus standen dabei die konsolidierten Entscheidungen G 1/22 und G 2/22 der Großen Beschwerdekammer des EPA.

In dieser Entscheidung hat die Große Beschwerdekammer Grundlagen für die künftige Prüfung der formellen Priorität geschaffen. Die Große Beschwerdekammer hat entschieden, dass ein Rechtsübergang des Prioritätsrechts allein nach dem EPÜ zu beurteilen ist. Dies bedeutet, dass nationale Rechtsvorschriften nicht (mehr) einbezogen werden, und stellt eine Abkehr von der früheren Praxis dar, bei der nationales Recht herangezogen wurde (vgl. T 1201/14).

Zum Hintergrund: Insbesondere aufgrund der früheren Notwendigkeit in den USA, die Patentanmeldung im Namen der Erfinder anzumelden, war das EPA häufig mit der Konstellation konfrontiert, dass eine von einer PCT-Anmeldung abstammende EP-Anmeldung die Priorität einer US-Anmeldung beanspruchte, wobei sich die Anmelder der Prioritätsanmeldung von den Anmeldern der Nachanmeldung unterschieden. Ob ein wirksamer Rechtsübergang von den Anmeldern der US-Prioritätsanmeldung zu den Anmeldern der PCT- bzw. EP-Nachanmeldung vorlag, wurde dann vom EPA (meist) nach US-Recht geprüft – nun nicht mehr!  

Gemäß der Entscheidung G 1/22 bzw. G 2/22 reicht eine implizite Vereinbarung, zum Beispiel eine konkludente Übertragung, zur wirksamen Übertragung aus, da im EPÜ keine Formerfordernisse für die Übertragung des Prioritätsrechts festgelegt sind.

Die Große Beschwerdekammer stellt eine widerlegbare Vermutung auf, dass der Anmelder befugt ist, die Priorität zu beanspruchen. Damit wird die Beweislast dahingehend verschoben, dass derjenige, der die Prioritätsberechtigung anficht, nachweisen muss, dass diese Berechtigung tatsächlich fehlt. Die Große Beschwerdekammer bezweckt damit, dass die Priorität in Einspruchsverfahren seltener angegriffen wird.

Explizit offen lässt die Große Beschwerdekammer die Frage nach dem sog. PCT Joint Applicants-Ansatz. Stattdessen stellt die Große Beschwerdekammer das Konzept einer impliziten Abmachung bzw. eines impliziten Einverständnisses auf, wonach die bloße Tatsache der gemeinsamen Einreichung einer PCT-Nachanmeldung dafür ausreicht, dass die Beteiligten offenbar eine implizite Abmachung dahingehend eingegangen sind, dass sich ein zusätzlicher Nachanmelder auf das Prioritätsrecht berufen kann, das durch das Einreichen der Prioritätsanmeldung durch die anderen Nachanmelder einhergeht. Eine derartige Abmachung bzw. ein derartiges Einverständnis darf nur impliziert werden, sofern alle Anmelder der Prioritätsanmeldung bzw. deren Rechtsnachfolger („all applicants“) auch Anmelder der Nachanmeldung sind. Aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, gilt nun trotzdem die widerlegbare Vermutung zugunsten der Prioritätsberechtigung der Nachanmelder.

In diesem Zusammenhang ist ein Rückblick auf die Entscheidung T 844/18 (CRISPR) interessant, in der die Beschwerdekammer die Wirksamkeit der Priorität mangels der „all applicants“-Anforderung verneinte. Vor dem Hintergrund der neuen Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ist fraglich, inwiefern die Anwendung einer „widerlegbaren Vermutung“ hier zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.

Es bleibt spannend, wie insbesondere die Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern die von der Großen Beschwerdekammer in G 1/22 bzw. G 2/22 eingeführten Konzepte im Einzelnen umsetzen werden, z. B. Maßstäbe für eine Widerlegung der Vermutung. Hierzu konnten die Kollegen Dr. Martin Huenges und Dr. Kerstin Wolff berichten, die auf Grund ihrer Beteiligung an anderen CRISPR-Fällen mit den Entscheidungen T 2360/19, T 2516/19 und T 2689/19 vertraut sind. Diesen Entscheidungen lagen bereits die neuen Grundsätze der Großen Beschwerdekammer zu Grunde und (selbst) in diesen Fällen konnte die Vermutung der Prioritätsberechtigung nicht widerlegt werden.

Währenddessen hat sich der BGH dieser neuen EPA-Rechtsprechung bereits angeschlossen – zumindest für DE-Teile von EP-Patenten (BGH Sorafenib-Tosylat, BGH Happy Bit).

Die Beiträge im Maiwald-Blog stellen lediglich einen Überblick zu aktuellen rechtlichen Themen, Gesetzgebungsvorhaben sowie Rechtsprechung dar und dienen der allgemeinen Information und ersetzen keinesfalls eine konkrete Beratung im Einzelfall. Wenn Sie Fragen zu den hier angesprochenen oder anderen Themen und Rechtsgebieten haben, steht Ihnen Ihr persönlicher Ansprechpartner bei Maiwald oder der jeweils im Beitrag genannte Verfasser gerne jederzeit zur Verfügung.

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Autoren

Dr. Michaela Weigel-Krusemarck

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Patentanwältin

European Patent Attorney

EPG-Vertreterin

Diplom-Physikerin