In den letzten 10 Jahren hat die Große Beschwerdekammer (GBK) über eine Reihe von Rechtsfragen entschieden, um die einheitliche Anwendung von Artikel 53(b) EPÜ zu prüfen und diesbezügliche Ungewissheiten aufzuklären.
Artikel 53(b) EPÜ besagt, dass Pflanzensorten oder Tierrassen oder im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind.
In den Entscheidungen G 2/07 und G 1/08 (Brokkoli I und Tomate I, 2010) legte die GBK eine grammatikalische Interpretation des Artikels dar und erklärte u.a., dass „im Wesentlichen“ ein gewisses Maß an menschlicher Intervention beinhalten kann. Die GBK kam zu dem Schluss, dass traditionelle Züchtungsmethoden daher nicht patentierbar seien, sondern nur Verfahren, die die Veränderung des Genoms durch technische Eingriffe beinhalten.
2015 wurde der GBK die bislang ungeklärte Frage vorgelegt, ob Erzeugnisse (Pflanzen oder Pflanzenteile wie z.B. Früchte) patentierbar seien, obwohl sie aus von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen Verfahren gewonnen wurden. Diese Frage wurde von der GBK in G 2/12 und G 2/13 (Brokkoli II und Tomate II) geklärt. Erzeugnis-Ansprüche und Product-by-Process Ansprüche, die sich auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial beziehen, wurden darin für patentierbar erklärt, auch wenn das Erzeugnis durch ein im Wesentlichen biologischen Verfahren gewonnen wurde.
In 2017 jedoch führte der Verwaltungsrat die neue Regel 28(2) EPÜ in die Ausführungsordnung ein.
Regel 28(2) EPÜ besagt, dass Pflanzen oder Tiere, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wurden, nicht patentierbar sind.
Da dies im Widerspruch zur Auslegung von Artikel 53(b) EPÜ durch die GBK im Jahr 2015 zu stehen scheint, hat der Präsident des EPA dem GBK entsprechende Fragen zur Klärung vorgelegt.
In der Entscheidung G 3/19 von Mai 2020 scheint die GBK zu dem Schluss zu kommen, dass sich die Bedeutung eines Artikels im Laufe der Zeit ändern kann und vor dem aktuellen sozioökonomischen Hintergrund interpretiert werden muss.
Die GBK entschied, dass im Lichte der Regel 28(2) EPÜ Erzeugnis-Ansprüche und Product-by-Process-Ansprüche, die sich auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere beziehen, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wurden, nicht mehr patentierbar seien. Die Entscheidung gilt rückwirkend für alle Anmeldungen, die nach dem 1. Juli 2017, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens von Regel 28(2) EPÜ, eingereicht wurden.
Infolgedessen werden Produktansprüche, die sich auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere beziehen, beim EPA schwieriger zu erhalten sein. Dennoch kann es immer noch sinnvoll sein, Ansprüche, die auf solche Gegenstände gerichtet sind, in neue Anmeldungen aufzunehmen, da in anderen Rechtssystemen andere Regelungen gelten.